Wie gehen Sie?

Die Analyse Ihres Gangbilds ist die Grundlage, um beim späteren Üben die Koordination Ihres Körpers verändern zu können. Dabei gibt es keine Kategorien wie »richtig« und »falsch«. Da kein menschlicher Körper eine Symmetrie aufweist, Sie unterschiedlich große Füße und Beinlängen besitzen, jedes menschliche Becken und jede Wirbelsäule in sich mehr oder weniger verdreht ist und wir zu mindestens aus 2/3 Flüssigkeit bestehen, können Sie sich entspannen. Denken Sie immer daran: Kein Mensch kann aufgrund der genannten Tatsachen „richtig“ gehen!

Ihr Gang ist das Ergebnis eines Prozesses, der Ihr ganzes Leben spiegelt. Ihr Körper, Ihr Geist und Ihre Seele haben die besten Antworten auf die Anforderungen des Lebens, die intelligentesten Lösungen und Bewegungen gefunden, die möglich waren, auch wenn es schon zu Erkrankungen und Schmerzen gekommen ist. Jetzt können Sie durch Bewusstheit neue Lösungen und neue Bewegung finden, eine neue Möglichkeit des Gehens entdecken.

Nehmen Sie sich für die Analyse genügend Zeit. Sollten Sie gerade wenig Zeit haben, ist das kein Problem: Sie müssen nicht sofort alle Fragen beantworten. Tragen Sie bequeme enganliegende Kleidung, in der Sie sich wohlfühlen.

Schreiben Sie Ihre Beobachtungen auf, machen Sie Fotos oder einen kleinen Film. Falls Sie Ihren Gang allein analysieren, ist es hilfreich, wenn Sie einen großen Spiegel und etwas Platz zur Verfügung haben. Sie können aber auch einen Freund oder eine Freundin bitten, Sie bei der Beobachtung zu unterstützen.
Wenn Sie gehen, sollten Sie die Geschwindigkeit Ihres Gangs variieren, von Zeitlupentempo bis zu Ihrer normalen Alltagsgeschwindigkeit. Gehen Sie am Anfang barfuß. Später ziehen Sie Ihre Lieblingsschuhe an.

Erkennen Sie zuerst Ihre »Normalität« und verstärken bzw. übertreiben Sie dann spielerisch das Gesehene und Erspürte. Machen Sie sich einen Spaß und lächeln Sie über sich selbst! Fühlen Sie sich wie ein Schauspieler. Bisher haben Sie unbewusst Ihre Rolle gespielt, sind ohne darüber nachzudenken einfach durchs Leben gegangen. Jetzt werden Sie die Kunst des Gehens erlernen und viele verschiedene Rollen spielen können. Wählen Sie die passende Rolle in der richtigen Situation aus! Einige Rollen, die sich durch die alltägliche Routine schon tief in Ihren Körper eingeprägt und insbesondere Ihre Füße geformt haben, können Sie zu Ihren Gunsten verändern. Aber als Erstes müssen Sie wissen, in welcher Rolle Sie bisher agiert haben, wie Sie bis jetzt Ihre Füße belastet haben, wie Sie gehen.

Die Beobachtung im Stehen

Sie beginnen im Stand auf zwei Füßen, Sie stehen etwa hüftbreit. Stellen Sie sich zunächst folgende Fragen:

Wie verteilt sich das Gewicht Ihres Körpers auf beiden Füßen?
Da die Fläche Ihrer Füße im Vergleich zu Ihrem gesamten Körper äußerst klein ist, sollte Ihr Gewicht möglichst gleichmäßig auf der ganzen Fläche jedes Fußes verteilt sein.

Liegen Ihre Zehen in ihrer ganzen Länge auf dem Boden auf?
Ist Ihr Körperschwerpunkt im Lot zwischen beiden Füßen, können alle Ihre Zehen entspannt der Länge nach auf dem Boden liegen. Kein Zeh ist in der Luft und kein Zeh muss sich am Boden festhalten und sich festkrallen. Das Festkrallen oder Hochziehen der Zehen ist ein Anzeichen für Instabilität.

Wohin zeigen Ihre Füße?
Füße, die geradeaus zeigen, sind ein besserer Hebel beim Aufsetzen und Abdrücken des Fußes. Bei nach außen gedrehten Füßen nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass Ihr Fuß nach innen knickt und die Innenseite verstärkt belastet wird.

Wie gestreckt sind Ihre Knie?
Ihre Kniegelenke haben die Fähigkeit, beim Aufkommen und Abbremsen der Füße elastisch und federnd reagieren zu können. Kniegelenke sollten sich deshalb auch im Stehen elastisch und federbereit anfühlen und nicht nach hinten durchgedrückt werden.

Stehen Becken, Brustkorb und Kopf im Lot übereinander?
Stellen Sie sich seitlich vor einen Spiegel oder eine Freundin / einen Freund. Wenn alle Körperteile ausgewogen im Lot übereinander stehen, können Ihre Füße gleichmäßig belastet werden. Die Aufrichtung gegen die Schwerkraft im Stand ist dann ein »Kinderspiel«. Sollte dies nicht der Fall sein, liegt der Grund für Ihre Haltung vielleicht an einer ungünstigen Verdauung. Ihr Bauch ist gebläht oder Ihr Magen angespannt. Ihr Gehirn ermöglicht Ihnen die Entspannung des Bauchraums auf Kosten eines Hohlkreuzes.

Wie ist es um Ihre Balance bestellt?
Stellen Sie sich auf einen Fuß! Heben Sie das andere Bein an. Es ist egal, wie hoch Sie dieses Bein heben.

Im Bild sehen Sie eine gute Koordination im Einbeinstand.

Wenn Sie eine gute Balance Ihres Rumpfes über Ihrem stehenden Fuß entwickeln, können Ihre Füße und Ihre Knie geradeaus zeigen. Ihr Bein fühlt sich elastisch an und das Gewicht ist auf Ihre gesamte Fußsohle gleichmäßig verteilt. Ihr Fuß kippt und dreht nicht nach innen oder außen. Er steht mit allen Zehen vollkommen entspannt auf dem Boden. Ist Ihr Rumpf nicht gut ausbalanciert, werden Sie wahrscheinlich versuchen, Ihre Füße nach außen zu drehen, und sich mithilfe der Zehen am Boden festhalten oder sie angespannt nach oben ziehen. Das gibt Ihnen in diesem Fall mehr Sicherheit.

Die Beobachtung Ihrer Füße und Beine im Gehen

Gehen Sie los! Die Beobachtungen, die Sie bereits im Stand gemacht haben, werden sich verstärken, da durch das Beschleunigen und Abbremsen Ihrer Füße beim Gehen wesentlich höhere Kräfte (Schwung!) als im Stehen wirken. Um Ihre Wahrnehmung zu erleichtern, konzentrieren Sie sich zunächst auf die Ausrichtung Ihres Beins. Ihre Knie sind während des Bewegungsablaufs ein sehr guter optischer Orientierungspunkt. Malen oder kleben Sie sich deshalb einen Punkt auf die ungefähre Mitte Ihres Knies. Sie besitzen jetzt »Knieaugen«.

Beobachten Sie nun die Bewegung Ihrer Knieaugen während des gesamten Bewegungsablaufs beim Gehen. Unterscheiden Sie folgende Phasen:
1. Das Aufkommen – erster Kontakt der Ferse zum Boden.
2. Die Belastung – Ihr Körper, mit dem Becken als Zentrum, bewegt sich über den ganz aufsetzenden Fuß.
3. Die Vorspannung – Ihr Becken hat den Fuß überholt, die Ferse des hinteren Beins steht noch auf dem Boden.
4. Der Abdruck – die Ferse des hinteren Beins ist angehoben und der Vorfuß belastet. Der Fuß löst sich vom Boden.
5. Der Flug – der Fuß erreicht den höchsten Punkt. Das Knie des nach vorn schwingenden Beins zeigt, wie das stehende Bein, geradeaus.

Zeigen Ihre »Knieaugen« in jeder Phase nach vorn?
Füße und Becken beeinflussen die Ausrichtung Ihrer Knie. Sie sind wie die zwei Enden eines federnden Bogens, mit dem Sie Ihr Schwungbein zielgerichtet nach vorn schnellen lassen und Ihr Standbein stabil aufsetzen. Alle Teile des Bogens sollten gerade nach vorn zeigen. Sollten Ihre Knieaugen nach innen oder außen zeigen, ist die Ursache dafür eine nach innen oder außen geneigte Ferse und ein instabiles Becken, das meist nach links und rechts außen pendelt. Die Pendelbewegung kann sehr klein ausfallen und trotzdem enorme Auswirkungen auf die Stabilität Ihrer Füße haben. Eine Instabilität des Beins führt zu einer erhöhten Abnützung des Großzehengrundgelenks, der Knie und der Hüfte. Das kann längerfristig Schmerzen verursachen. Das Gegenteil eines instabilen Beckens ist ein durch angespannte Pobacken unbewegliches Becken. Dadurch kann sich das ganze Bein mit Knien und Füßen nach außen drehen.

Wohin zeigen Ihre Füße während der unterschiedlichen Phasen des Gehens?
Die Füße zeigen in die Richtung, die Ihr Körperschwerpunkt beim Auftreten und Landen des Fußes einschlägt. Wenn Sie geradeaus gehen wollen und Ihre Füße nicht in Gehrichtung zeigen, erhöht dies Ihren Energieaufwand und zeugt von einer ungünstigen Schwerpunktverlagerung.

Mit welcher Kraft landen Sie auf Ihrem Fuß?
Halten Sie sich beim Gehen mit ihren zwei kleinen Fingern die Ohren zu. Sie hören, wie eine starke Stoßwelle vom Fuß bis zur Schädeldecke wandert – abhängig davon, wie Sie das Auftreten gestalten. Entscheidend ist der Landepunkt. Wenn Sie sehr weit hinten auf der Ferse landen, befindet sich dort harter Knochen. Wenn Sie flächig auf der Ferse landen, dämpft ein bis zu einem Zentimeter dickes Fettpolster den Aufprall. Die größte Stoßdämpfung erfolgt dann über das Kniegelenk, das sich bei einer flächigen Landung in einer leichten günstigen Beugestellung befindet. Hören Sie hin!

Wie stabil steht Ihre Ferse bei der Belastung des Fußes?
Ihre Ferse sollte nicht nach innen knicken und drehen, da Sie ansonsten einen schmerzhaften Knick-Senk-Spreizfuß entwickeln können. Falls Ihre Ferse zu stark nach außen gekippt und gedreht steht, kann dies zu einem Hohlfuß führen.

Spreizfuß mit Hallux valgus

Hier sind die Folgen der nach innen kippenden und drehenden Ferse zu sehen. Die Innenseite des Fußes wird stark, die Außenseite des Fußes wenig belastet. Dadurch kann Ihr erster Mittelfußknochen instabil werden, sich nach oben verdrehen und abspreizen. Die große Zehe zeigt dann zur zweiten Zehe, es ergibt sich eine Schiefstellung. Die Diagnose lautet: Hallux valgus. Oft passt dann kein Schuh mehr und es entstehen schmerzende Druckstellen. Der gespreizte Vorfuß kann an seiner Unterseite zwischen den Grundgelenken der ersten, zweiten oder dritten Zehe schmerzen.

Wie gestreckt sind Ihre Knie beim Aufkommen Ihres Standbeins?
Ihr Kniegelenk ermöglicht Ihnen eine weiche Landung des Fußes auf dem Boden. Es beugt sich ein wenig im Augenblick der Landung der Ferse und streckt sich leicht bis zur ganzen Belastung des Fußes. Bei einer minimalen Vorneigung des ganzen Körpers wird Ihnen dies möglich sein. Bei einer zu starken Neigung nach hinten, wird Ihr Knie im Moment der Landung stark gestreckt sein und Ihnen keine Dämpfung ermöglichen. Denken Sie daran: Kleine Schritte sind weniger belastend als große Schritte. Die vollständige Streckung Ihres Knies sollte erst kurz vor der Anhebung der Ferse zum nächsten Schritt stattfinden.

Wie lang ist Ihr Schritt und wie breit ist der Abstand zwischen den Füßen?
Wenn der Abstand Ihrer Beine und Füße hüftgelenksbreit ist, können Sie den Schwung am besten nutzen. Je breiter der Abstand der Beine und Füße, desto stabiler stehen Sie. Beim Gehen gerät Ihr Oberkörper allerdings dadurch ins Schwanken. Schmalere Schritte wirken eleganter, erfordern aber eine größere Muskelanspannung im Rumpf zur Wahrung der Balance. Der Schwung im Oberkörper wird dadurch gebremst.

Die Beobachtung von Becken und Oberkörper im Gehen

Jetzt geht es um die Verteilung des Körpergewichts auf Ihre Beine und Füße. Beginnen Sie mit der Beobachtung Ihres Beckens. Stellen Sie sich Ihr Becken und Ihren Bauch als eine große Kugel vor. In der Mitte dieser Kugel befindet sich Ihr Körperschwerpunkt. Die Kugel kann sich um alle drei Raumachsen drehen, da Ihr Becken mit seiner Hüftgelenkspfanne auf dem kugeligen Ende Ihres Oberschenkels balanciert. Das Hüftgelenk befindet sich in der Mitte Ihrer Leiste. Wenn Ihre rechte Ferse den Boden berührt, sollte die rechte Beckenseite am weitesten nach vorn, innen und unten gedreht sein. Sobald Ihre Ferse Kontakt zum Boden hat, beginnt Ihr Becken sich auf der entsprechenden Seite aufzurichten und nach hinten außen zu drehen. Dadurch wird der Schwung im gleichen Augenblick Ihr Bein auf der anderen Beckenseite nach oben und vorn fliegen lassen, da das Becken auf dieser Seite entgegengesetzt gedreht wird. Die Bremsenergie der Standbeinseite wird durch das auf dem runden Hüftgelenk gelagerte Becken in Schwung(energie) für die Schwungbeinseite umgesetzt.

Wohin bewegt sich Ihre »Beckenkugel« vom Moment des Auftretens Ihrer Ferse bis zur vollständigen Belastung Ihrer Fußsohle?
Wenn Sie die Schwungenergie Ihres Beckens nutzen, entspannt sich Ihr unterer Rücken. Ihr Beckenboden und Ihre Bauchmuskulatur werden bei jedem Schritt ohne Anstrengung trainiert. Ihre Füße stehen stabil. Sollte Ihr Becken in allen Phasen des Gehens nach vorn geneigt verweilen und dadurch instabil nach rechts oder links außen pendeln, werden Ihre Füße ungleichmäßig belastet. Aber auch ein festgehaltenes aufgerichtetes oder nach vorn geschobenes Becken kann den Schwung nur eingeschränkt nutzen.

Bewegt sich Ihr Brustkorb beim Gehen in sich und pendeln Ihre Arme vor und zurück?
Legen Sie beim Gehen eine Hand auf Ihr Brustbein. Sie werden eine Bewegung unter Ihrer Hand spüren, obwohl sie vielleicht sehr klein und für Sie nicht sichtbar ist. Im günstigsten Fall wird die Schwungbewegung in Ihrem in sich elastisch schwingenden Brustkorb über Ihre Schultern auf Ihre Arme übertragen. Ihre Arme sollten in Gehrichtung pendeln, nicht nach innen oder außen.

In welcher Stellung befindet sich Ihr Kopf beim Gehen? Ist Ihre Halswirbelsäule gestreckt, geknickt oder überstreckt?
Betasten Sie während des Gehens Ihren Nacken und Ihren Hals. Gibt es einen Knick? Oder haben Sie ein Doppelkinn? Ihre Kopfstellung ist von der Ausrichtung des gesamten Rumpfes abhängig. Ihr Hals mit dem darauf ruhenden Kopf sollte sich entspannt und lang anfühlen.

Gehen ist mehr als ein mechanischer Vorgang. Gehen ist der Spiegel Ihres ganzen Seins. Welche Gefühle verbinden Sie mit Ihrem Auftreten? Geben Sie Ihren Emotionen in Bewegung, Mimik und Gestik Ausdruck! Spielen Sie mit Bildern. Seien Sie z.B. eine Tigerin oder ein Tiger im Dschungel, jederzeit sprungbereit für einen gewaltigen Satz und gleichzeitig lautlos, sodass Sie auf ein welkes Herbstblatt steigen könnten, ohne gehört und erkannt zu werden.

Üben Sie trotz Ihres bereits erworbenen Wissens nicht nur das technisch richtige Gehen. Beobachten Sie immer wieder neu, nehmen Sie wahr! Gehen Sie die Fragen immer wieder durch. Laden Sie Freunde und Freundinnen dazu ein. Die meisten Menschen finden es nach dem ersten Erstaunen und der Überwindung der Scham interessant und spannend, so etwas scheinbar Alltägliches und Selbstverständliches wie das Gehen näher zu erforschen. Bewahren Sie in Ihren Aussagen und Ihren Gesprächen immer die Hochachtung vor dem Gesehenen, gegenüber sich selbst und anderen Beteiligten.

Dieser Blogbeitrag ist ein Auszug aus meinem ersten Buch „Die Kunst des Gehens“, erschienen 2011 im Nymphenburger Verlag (inzwischen Teil des Kosmos Verlags). Im Frühjahr 2024 erscheint mein neuestes Buch „Starke Körpermitte Schritt für Schritt“ im Herbig Verlag.