„Entscheidend ist, was ein Schuh kann“

Interview der Fachzeitung „Der Schuhkurier“ mit Thomas Rogall, erschienen im Februar 2024, Ausgabe 06/2024

 

Thomas Rogall ist Physiotherapeut und Autor mehrerer Bücher über Fußgesundheit; in seiner „Fuß-Schule München“ lehrt er in Kursen „Die Kunst des Gehens“. Im Gespräch erläutert er, warum schon Teenager Fußprobleme haben und welche Rolle der Schuh dabei spielt.

Aus dem Schuhhandel ist zu hören, dass Fußprobleme zunehmen und die Menschen mit Fußfehlstellungen jünger werden. Trifft das zu?
Ja, das ist auch mein Eindruck. Die Fußprobleme treten teilweise schon in der Pubertät auf. Die häufigste Fußfehlstellung ist der Hallux valgus, gefolgt von Spreizfußbeschwerden, bei Älteren Arthrose und Hallux rigidus.

Wie kommt es in so jungen Jahren dazu?
Beim Hallux valgus spielt die Beckenstellung eine entscheidende Rolle. Ist das Becken instabil, wird der Fuß bei jedem Schritt ungünstig belastet. Denken Sie an Marilyn Monroe. Wenn man, wie sie, das Becken beim Gehen so sehr zur Seite hin und her bewegt und die Füße eng aneinander aufsetzt, wird dadurch zu viel Druck auf den ersten Mittelfußknochen ausgeübt, was die Entstehung des Hallux valgus begünstigt.

Sie beschreiben den klassischen Model-Gang – da denkt man natürlich gleich an den Einfluss, den Germany’s Next Topmodel schon auf Mädchen im Grundschulalter ausübt…
Richtig. Diese Art zu gehen gilt als sexy und ist unter Mädchen weit verbreitet.

Ein Catwalk für gesundes Gehen: In der Fuß-Schule München lernen schon Teenager „Die Kunst des Gehens“.

Was ist außerdem die Ursache für Fußprobleme, ob in jungen Jahren oder später?
Die Hauptursache ist die Tatsache, dass wir es in der Regel mit harten, flachen Böden zu tun haben, die dem Fuß keine Abwechslung bieten.

Nun hat man die Stabilisierung der Körpermitte zwar selbst in der Hand, doch harte Böden kann man nicht wegzaubern. Was kann der richtige Schuh ausrichten?
Der Schuh ist kulturell das wichtigste Hilfsmittel. Man geht daher davon aus, dass der Schuh gekauft wird, der sich am Fuß am angenehmsten anfühlt. Doch die optimale Passform ist nicht das einzige Kriterium: Ein Schuh soll auch soziale Zugehörigkeit vermitteln oder bestimmte Signale senden: Je höher die Ferse, desto instabiler wird der Stand; je mehr Instabilität und Hohlkreuz, desto femininer werden Haltung und Gang gelesen. In diesem Spannungsfeld agieren Frauen bei der Schuhwahl. Das gilt selbst für Spitzenpolitikerinnen wie Annalena Baerbock, die zu wichtigen Terminen in extremen High Heels erscheint.

Wie soll der ideale Schuh für den Alltag denn beschaffen sein?
Die kontinuierliche Konfrontation des Fußes mit harten, flachen und oft kalten Böden kann zu Beschwerden führen, etwa an der Ferse; daher wird die Ferse häufig gedämpft. Viele Schuhe haben auch eine Abrollhilfe oder die Sohle wird vorn nach oben gebogen, wodurch der Vorfuß, der ursprünglich so beweglich ist, wie eine Hand, in eine gespreizte Stellung gezwungen wird. Der springende Punkt bei all dem ist, dass der Fuß sich in einer passiven Rolle befindet. Je mehr dem Fuß geholfen wird, desto passiver wird er.

Eine Lösung könnten demnach ja eigentlich Barfußschuhe sein, die jedoch bei Problemfüßen nicht empfehlenswert sind?
Das Problem ist, dass viele der Barfußschuhe, die inzwischen angeboten werden, eine zu dicke Sohle haben. Dabei sollte die Sohle eines funktionell sinnvoll aufgebauten Barfußschuhs nicht dicker als 2,5, bis 3 mm sein; denn nur dann spürt man jedes Steinchen, so dass der Fuß permanent reagieren muss.

Was ist zu beachten, wenn man Barfußschuhe tragen will?
Anfangs sollte man sie nicht länger als 20 Minuten und ausschließlich auf natürlichen, leicht federnden Böden tragen. Die Tragezeit kann man später sukzessive verlängern, harte Böden sollte man jedoch meiden. Grundsätzlich kann man sagen, dass ein Barfußschuh Vorteile, aber auch Nachteile hat. Ein Vorteil ist beispielsweise, dass er keine Sprengung hat und die Ferste tief steht.

Wenn eine tiefstehende Ferse generell vorteilhaft ist, sind dann nicht klassische Fußbettsandalen mit Korksohle die ideale Wahl?
Fußbettsandalen, wie man sie etwa von Birkenstock kennt, sind Schuhe für zuhause, aber keinesfalls Schuhe, in denen man den ganzen Tag herumlaufen sollte. Zudem sollte man immer darauf achten, dass die Riemen über dem Rist stets so fest angezogen sind, dass die Innensohle nicht bei jedem Schritt vom Fuß wegklappt, sondern förmlich an der Fußsohle „klebt“. Das ist sehr wichtig für die Sensorik des Nervensystems.

Kinder und Jugendliche dürften darauf nicht immer achten. Sind denn Barfußschuhe eine gute Option für junge Menschen – auch weil ihr Fuß sich schnell an die Barfußmethode gewöhnt?
Absolut. Allerdings muss man darauf achten, dass der Schuh im Vorfußbereich lang und breit genug ist. Dafür orientiert man sich an dem Zeh, der am längsten ist.

Worauf sollten die Verkaufsmitarbeitenden bei der Beratung sonst noch achten?
Sehr wichtige ist, zu schauen, ob die Zehen vorne anstoßen, wenn man eine Treppe hinuntergeht. Da es vorkommt, dass Menschen aus Gewohnheit zu kleine Schuhe tragen, ist das nicht selten der Fall. Ob ein Zeh vorn anstößt, wenn der Fuß landet nehmen sie kaum noch wahr, weil sie daran gewöhnt sind, ständig die Zehen einzukrallen.

Was zeichnet eine gute Beratung außerdem aus?
Die Kundin sollte vor und nach der Anprobe die Socken ausziehen, sodass man sehen kann, ob es irgendwo am Fuß Rötungen gibt. Zudem wäre es gut, spezielle Lösungen, wie etwa die Hallux valgus Schnürung zu erläutern. Sehr wichtig ist es auch, darauf zu achten, dass Einlagen und Schuhe zueinander passen. Das ist nämlich häufig nicht der Fall.

Angenommen, Sie hätten selbst ein Fachgeschäft für Komfortschuhe: Worauf würden Sie besonders achten?
Auf gute Qualität. Zudem würde ich mir die Leistung des einzelnen Schuhs genau ansehen: Was kann, was will dieser Schuh – das ist es was zählt. Die Marke ist weniger wichtig.

Was wünschen Sie sich von den Schuhherstellern?
Mehr Ehrlichkeit. Was ein Schuh kann und was nicht. Informationen zur Sprengung, zur Dämpfung oder Abrollhilfe, all das kann man ehrlich kommunizieren – und damit die Vor- und Nachteile eines Schuhs transparent machen.

Interview geführt von Annette Gilles
im Januar 2024